Ein Film ist ein Ereignis. Eine Perle auf einer Schnur von vielen Perlen. Eine grelle gelbe Perle neben einer langweiligen grauen Perle, neben einer schwarzen Perle, neben einer harmonisch blauen Perle. Jeder von uns hat seine kleine Perlensammlung an Eindrücken. Das können Bücher sein, Ausstellungen, Spaziergänge und auch Filme. Sie gehören uns und gehören ganz uns. Kino ist ein gemeinschaftliches Erlebnisse. Ein Film kann einen ansprechen, Kino spricht uns auch als Gemeinschaft an. Man kommt aus einer Vorstellung und trägt dieses Erlebnis und erlebt das Erlebnis der anderen mit. Gemeinschaftliche Freude, Lachen, Weinen, Wut, Agression. Die Gemeinschaft fängt es auf. Man kommt aus einem Film und lächelt sich gegenseitig wissend an. Oder gerät in hitzige Debatten, muss seinen Eindruck verteidigen und dabei feilt man das, was man empfindet noch deutlicher heraus. Man erkennt in der Reaktion der anderen auch seine eigene und versteht sie besser.
Warum ich das schreibe? Man sagt, nach einer Weile kristallisieren sich Favoriten im Festivalprogramm heraus. Täglich sucht man nach dem Kritikerspiegel, gleicht ab, ob die Einschätzung der anderen mit der eigenen übereinstimmt. Dieses Jahr gibt es kein Publikum und auch keinen Kritikerspiegel. Und keine KritikerInnen. Die Journalisten, man sagt, sie schreiben für die Leserschaft. Aber die Leserschaft kann die Filme gar nicht sehen. Da gibt es kein Echo in der Wahrnehmung. Man schwärmt (oder auch nicht) ins Leere. Ich finde, ich bin gar nicht einer Leserschaft verpflichtet, sondern einem Film. Aber wie kurz gedacht das ist, merke ich jetzt besonders stark. Es gibt Filme und zum Glück sind es für jeden von uns andere und manchmal auch die selben, da fühlt man so starke Emotionen, dass man sie teilen will. Man kommt aus dem Kinosaal und lächelt sich bestätigend an und das tut gut. Das fällt dieses Jahr alles weg. Man guckt einen Film in seinem Kämmerlein und hat keine Kollegenschar um sich herum, die dieses Erlebnis teilen. Das Echo, das die eigenen Gefühle für einen in diesem Fall Film auslöst, die ein Film (in diesem Fall ein Film) auslöst, verpufft.
"Petit maman" von Céline Sciamma ist ein seltener Fund, ein Film, den man mit Herzen sieht. Der einen erkennt und in dem man sich selbst erkennt. Zumindest mir geht es so. Céline Sciamma weiß ein sehr persönliches Gefühl auch in anderen auszulösen.
Eine alte Dame und ein Kind. Das Kind, Nelly heißt sie, steht auf und verabschiedet sich. "Au revoir", sie geht von einem Zimmer ins andere und verabschiedet sich auch von anderen. Dann betritt sie ein leeres Zimmer. Von ihrer Großmutter konnte sie sich nicht verabschieden. Nur ihre Mutter ist dort und packt die letzten Sachen. Die Mutter, Marion, setzt sich auf die Bettkannte des leeren Bettes und schaut hinaus. Ihr Abschied ist einer, den man mit dem Herzen hört.
Sciamma erzählt vom Abschied nehmen. Vom Abschied nehmen von jemandem, den man liebt, aber auch vom Abschied nehmen von einer Lebensspanne, einer Zeit im großen Gefüge. Von dem Kind sein, von dem Mutter sein. Wer sind wir, wenn wir Mutter sind? Wer sind wir, wenn wir unsere Mutter verlieren? Wie nehmen wir von Orten Abschied und von Erinnerungen? Ein Wohnungsauflösung ist ein Prozess des Loslassens. Nelly fährt mit ihrer Mutter und ihrem Vater in das Haus der Großmutter, um es aufzulösen. Aber dann reist die Mutter wortlos ab, das Abschied nehmen ist für sie zu schwer.
Nelly streift durch den angrenzenden Wald. So, wie es Kinder tun. Intensiv und verspielt, offen für Empfindungen und Begegnungen. Sie trifft auf ein anderes Mädchen, in etwa im gleichen Alter. Es winkt ihr zu. Fragt sie, als sie herankommt, ob sie helfen würde, eine Hütte zu bauen. Das Mädchen im Wald heißt Marion. Sie hat gerade ihre Großmutter verloren, die Nelly hieß. Nelly und Marion, gespielt von den Zwillingen Joséphine Sanz und Gabrielle Sanz spielen ausgelassen, sie tauschen sich aus, sie verstehen einander, sie schweigen gemeinsam. Nelly erkennt und teilt mit Marion, was sie erkennt. Dieses Teilen sagt, ich erkenne dich, ich erkenne dich in mir, ich erkenne mich in dir, ich erkenne deine Traurigkeit, aber meine Traurigkeit ist nicht deine Traurigkeit. Das Spiel der beiden Kinder ist so natürlich gehalten, daß eine Leichtigkeit den Schmerz auffängt. Man schaut diesen Kindern zu und weiß, alles ist gut.
"Petite maman" ist leise, subtil, voller Empathie und Weisheit. Sciamma erzählt von dem Abschied von der Kindheit und dem Versprechen, dass der Schmerz über den Abschied kein einsamer Schmerz sein muss. Das Kind lernt die Mutter als Kind kennen. Erkennt die Gemeinsamkeiten, erkennt die tiefere Wahrheit. Im Rahmen ist "Petite maman" ein Zeitreisefilm, ohne je darauf zu verweisen. Das Empfinden des Kindes und das Empfinden der Mutter überlagern sich, werden zum gemeinsamen Vermächtnis.
- Ich habe den Film während der digitalen Ausgabe der Berlinale 2021 gesehen.
Drama.
Frankreich 2021
Regie: Céline Sciamma
Drehbuch: Céline Sciamma
Bildgestaltung: Claire Mathon
Montage: Julien Lacheray
Musik: Jean-Baptiste de Laubier
Szenenbild: Lionel Brison
Kostüm: Céline Sciamma
Ton: Julien Sicart, Daniel Sobrino
Casting: Christel Baras
Cast: Joséphine Sanz, Gabrielle Sanz, Nina Meurisse, Stéphane Varupenne, Margot Abascal, Flores Cardo, Josée Schuller, Guylaine Péan
Dieser Text erschien zuerst hier
Comments
September 16, 2022 13:19
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