Die Ampelkoalition hat einen Vorschlag für ein neues #Bundestagswahlrecht veröffentlicht und der Union Gespräche darüber angeboten. Die reagiert bissig. Das passt zur Leidenschaft, mit der die Debatte geführt wird. Aber wer will hier eigentlich was? Welche Vorschläge stehen überhaupt im Raum und was sollen die bezwecken? Diese Fragen wollen wir im Folgenden angehen.
Die Basics
Personalisierte Verhältniswahl
Bevor wir in die eigentlichen Vorschläge gehen, schauen wir uns kurz die grundsätzliche Idee des deutschen Wahlsystems an. Wir benutzen hier die personalisierte Verhältniswahl, international bekannt als “mixed-member proportional”. Wie der Name schon vermuten lässt, ist der Kern der Idee eine Verhältniswahl. Das bedeutet, dass bei der Wahl eines Parlaments versucht wird, das Verhältnis der auf die Wahlvorschläge entfallenen Stimmen möglichst genau auf die Sitzverteilung zu übertragen. Wahlvorschläge heißt in der Praxis der Bundestagswahl schlicht und ergreifend Parteien (bzw. Parteilisten). Hier ein vereinfachtes, fiktives Beispiel mit drei Parteien und zehn zu verteilenden Sitzen1: Die entscheidende Stimme bei der Bundestagswahl heißt “Zweitstimme”, daher übernehmen wir diesen Begriff hier, auch wenn er zurecht in der Kritik steht2.
Bei der Verhältniswahl wird durch ein Sitzverteilungsverfahren aus dem Wahlergebnis eine Sitzverteilung berechnet. Die Verfahren unterscheiden sich darin, wie sie den ein oder anderen Sitz im Falle eines knappen Ergebnisses verteilen, aber die Idee ist immer die selbe: Das Parlament soll möglichst genau das Wahlergebnis repräsentieren. In unserem Beispiel ist es recht eindeutig. Das Stimmverhältnis ist 19/32/49 und bei zehn Sitzen wird daraus 2/3/5.
Was noch fehlt ist der personalisierte Anteil. Die Idee dahinter ist, dass man lokale Repräsentation sicherstellen möchte, d.h. das aus jedem “Eck” der Republik auch jemand ins Parlament einzieht. Dazu wird das Wahlgebiet in sog. Wahlkreise eingeteilt und die Parteien3 stellen dort jeweils eine einzige Person auf. Die Wählerinnen erhalten eine weitere Stimme für diese Personen. Bei der Bundestagswahl heißt diese “Erststimme”.
Die Person, die den Wahlkreis gewinnt, hat ein sog. Direktmandat, eine Art Erstzugriffsrecht auf die Sitze ihrer Partei. Typischerweise ist die Anzahl der Wahlkreise die Hälfte der Parlamentssitze, also erweitern wir unser Beispiel um fünf Wahlkreise: Dieses Beispiel ist ein Idealfall. Die Verteilung der gewonnen Wahlkreise passt grob zur Zweitstimmenverteilung und die Wahlkreisgewinner kriegen einen Teil der Sitze ihrer Partei, während die restlichen Sitze nach Parteiliste verteilt werden.
Das Problem überzähliger Mandate
Nun leben wir nicht in einer idealen Welt und die Idee der personalisierten Verhältniswahl geht nicht immer auf. Schauen wir uns ein anderes Szenario unseres Beispiels an. Dieses werden wir für den Rest des Artikel verwenden.
Hier haben wir ein komplett anderes Zweitstimmenergebnis. Die Parteien sind deutlich näher zusammen, aber Partei A hat einen leichten Vorsprung und da die zehn Sitze nicht exakt auf drei Parteien aufgeteilt werden können, kriegt sie einen Sitz mehr. Wenn wir nun annehmen, dass die Wahlkreise recht homogen sind und das Erststimmenergebnis in jedem Wahlkreis ähnlich ist wie das Zweitstimmenergebnis, gewinnt Partei A alle Wahlkreise4.
Partei A gewinnt also fünf Wahlkreise, hat aber nur vier Sitze zu verteilen. Hier stößt die Sitzverteilungsregel von oben plötzlich an ihre Grenzen. Aber es gibt verschiedene Ansätze um das Problem zu lösen.
Lösungsmöglichkeiten für überzählige Mandate
Gehen wir im Folgenden davon aus, dass wir das grundlegende Wahlsystem nicht infrage stellen. Wir bleiben bei der personalisierten Verhältniswahl, gehen nicht zurück zum veralteten “First Past the Post”, schaffen die Wahlkreise nicht gänzlich ab und lassen auch die von der Union gerne mal gezündete Nebelkerze des Grabenwahlsystems links liegen (oder heben uns das alles für einen anderen Post auf).
Die historische Lösung: Überhangmandate
Die Lösung der Vergangenheit im Bundestagswahlrecht war den Bundestag einfach um die überzähligen Mandate zu vergrößern und den Parteien zuzuteilen, die solche überzähligen Mandate erzielt haben. Es entstanden sog. Überhangmandate.
Der Nachteil ist offensichtlich: Überhangmandate verzerren den Wählerwillen zugunsten der stärksten Partei. Dies liegt insbesondere (aber nicht ausschließlich) daran, dass es egal ist ob eine Wahlkreisbewerberin mit 19% oder 45% ihren Wahlkreis gewinnt. Ebenso ist egal ob der Vorsprung zum Zweitplatzierten eine Stimme oder Hunderttausend Stimmen beträgt.
Bis 1990 waren die Überhangmandate im niedrigen bis mittleren einstelligen Bereich. Die Wahlkreise haben die beiden großen Parteien mit ihren klar abgegrenzten Wählermilieus unter sich ausgemacht. Die meisten Wahlkreise hatten klare Mehrheitsverhältnisse. Eigentlich konnte man die Überhangmandate auch getrost ignorieren und war ziemlich nah am Idealfall.
Die Situation ist allerdings jetzt eine ganz andere. Es gibt sechs Parteien im Bundestag und die Mehrheitsverhältnisse schwanken stark. Eine mittlere zweistellige Menge an Überhangmandaten ist nicht nur schon mehrfach vorgekommen, sondern auch weiterhin zu erwarten.
Nur die Union kann sich über die Republik hinweg gerade so meist noch als stärkste Kraft behaupten. Und so ist es auch kein Wunder, dass sie sehr stark mit den Überhangmandaten liebäugelt. Nicht zuletzt weil sie durch die “Ausgliederung” der CSU noch deutlich mehr von Überhangmandaten profitiert. Daher ist es auch nicht verwunderlich, das alle Vorschläge, über die die Union bereit war zu diskutieren, die Überhangmandate zumindest zum Teil wiedereinführen würden.
Einerseits stimmt es, dass das Bundesverfassungsgericht die Verzerrung des Wählerwillens durch Überhangmandate zwar anerkannt hat, diesen aber als verfassungskonform erachtet, solange er nicht ausufert. Fünf Prozent (als ca. 30) Überhangmandate hat es in den Raum gestellt.
Andererseits darf man zurecht die Frage stellen, wieso die anderen Parteien (oder auch fair denkende Wählerinnen) eine Lösung akzeptieren sollten, die ausschließlich zum Vorteil der Union ist.
Der Status Quo: Überhang- & Ausgleichsmandate
Überhangmandate alleine waren dennoch nicht so ohne weiteres verfassungsgemäß, weil man plötzlich in das Problem des negativen Stimmgewichts geschlittert ist. Und so kommt es, dass diese Mandate heute von Ausgleichsmandaten begleitet werden. Statt nur die überzähligen Mandate zuzuteilen, wird das Parlament einfach so lange vergrößert, bis alle Direktmandate (inkl. der überzähligen) bei korrekter Sitzberechnung Platz haben. Letztere heißen dann immer noch “Überhangmandate”, die übrigen hinzugekommen Sitze “Ausgleichsmandate”.
Dieser Ansatz hat den entscheidenden Vorteil, dass er alle Direktmandate im Parlament unterbringt ohne den Wählerwillen zu verzerren. Der Nachteil ist allerdings, dass die Anzahl der Ausgleichsmandate je nach tatsächlichen Mehrheitsverhältnissen ein Vielfaches der Überhangmandate betragen kann, aktuell im Bundestag z.B. 34 Überhangmandate und 104 Ausgleichsmandate.
Ein Parlament so deutlich über Soll-Größe hat ein paar Nachteile. Zum einen wird die Logistik des Gesetzgebungsprozesses irgendwann schwer, z.B. sind so banale Fragen wie Bürozuteilungen zu klären. Zum anderen kostet es deutlich mehr Geld.
Nun sind die Kosten für Parlamente in öffentlichen Haushalten beinahe schon vernachlässigbar gering und mehr Abgeordnete können auch mehr Arbeit verrichten, aber mehr Politiker zu bezahlen ist trotzdem nicht besonders populär. So kommt es wahrscheinlich dazu, dass zwischen den Parteien zumindest darüber, dass diese Lösung keine Dauerlösung sein kann, erstaunliche Einigkeit herrscht.
Der aktuelle Vorschlag: Verfall von Direktmandaten
Der Vorschlag der Ampelkoalition versucht nun den Bundestag wieder zu verkleinern ohne den Wählerwillen zu verzerren. Dafür greift er zu einer ganz anderen Idee und geht wieder näher an eines der Grundprinzipien der personalisierten Verhältniswahl. Dieses besagt, dass Direktmandate nicht per se Anspruch auf einen Parlamentssitz haben, sondern “nur” auf einen Parlamentssitz ihrer Partei. Die logische Schlussfolgerung daraus wäre, dass wenn eine Partei nicht genug Sitze hat, die am wenigsten erfolgreichen Wahlkreisgewinnerinnen keinen Sitz bekommen.
Diese Lösung erscheint in der Tat auf den ersten Blick einfach und elegant. Das Parlament ist stets auf Soll-Größe und der Wählerwille ist exakt abgebildet. Aber dieser Ansatz kratzt natürlich am Grundsatz der lokalen Repräsentation.
Nun ist lokale Repräsentation alles andere als unumstößlich. In Zeiten als die schnellste Möglichkeit der Kommunikation ein Bote auf einem Pferd war, musste man Wahlen lokal organisieren und die Abgeordnete war ein wichtiges Bindeglied zwischen Hauptstadt und Wahlvolk; gerade in riesigen Flächenländern wie den USA. Aber heute krieg ich auch im tiefsten Bayern alles mit was im Bundestag passiert und kann E-Mails an Abgeordnete aus Würzburg oder Hannover schreiben, wenn ich glaube, dass diese meine Interessen am besten vertreten. Und seien wir ehrlich, wie viele Leute kennen überhaupt ihren Wahlkreisabgeordneten?
Ein kompletter Wegfall der Direktmandate hätte sicher viel mehr Nachteile5. Aber wenn ein paar Wahlkreise, die so umkämpft sind, dass sowieso niemand behaupten könnte sie zu repräsentieren, keinen direkt gewählten Abgeordneten haben, wäre das sicher noch kein Beinbruch. Die Idee ist auch nicht ganz neu. Auch in den bayerischen Landtag zieht man nicht automatisch ein, wenn man seinen Wahlkreis gewinnt. Die eigene Partei muss auch die Fünf-Prozent-Hürde knacken.
Und dennoch regt sich großer Widerstand. Die Motivation der Union ist klar: Wenn die Idee, dass nicht jeder Wahlkreis eine direkt gewählte Abgeordnete braucht, Schule macht, kann sie sich davon verabschieden, jemals wieder einen Vorteil aus unausgeglichenen Überhangmandaten zu ziehen. Sie muss also aufbegehren, auch wenn die Rhetorik von “Wahlfälschung” und “Bananenrepublik” schon trumpistische Züge annimmt. Man sollte aber nicht übersehen, dass auch in anderen Partei nicht alle glücklich sind. Lokale Repräsentation hat am Ende eben auch Vorteile.
Reduzieren der überzähligen Mandate
Wie wir gesehen haben, haben alle Ansätze um mit überzähligen Mandaten umzugehen, Vor- und Nachteile. Die Nachteile sind aber umso gravierender, je mehr überzählige Mandate es gibt:
- Je mehr Überhangmandate, umso größer das Parlament und umso verzerrter der Wählerwillen
- Je mehr Ausgleichsmandate, umso noch größer das Parlament
- Je mehr entfallene Direktmandate, umso weniger lokale Repräsentation Egal welche Lösung wir wählen, wir würden die Probleme also deutlich minimieren, wenn wir das Auftreten von überzähligen Mandaten minimieren. Die zwei gängigsten Lösungsvorschläge wollen wir hier betrachten.
Wahlkreise reduzieren
Die Idee, dass es immer halb so viele Wahlkreise wie (Soll-)Sitze im Parlament geben muss ist mehr historisch gewachsen als in Stein gemeißelt. So hat die heutige Koalition als damalige Opposition einst vorgeschlagen, die Anzahl der Wahlkreise auf 250 zu verkleinern und gleichzeitig die Soll-Größe des Bundestags auf 630 erhöhen.
Die Idee ist simpel, wenn es weniger Wahlkreise gibt, müssen weniger Direktmandate zugeteilt werden und die Chance, dass diese “keinen Platz” haben sinkt deutlich. In unserem Beispiel-Szenario wäre das Problem mit einer Reduktion von fünf auf vier Wahlkreise gelöst.
Auch hier beläuft sich die Kritik vor allem an der Schwächung der lokalen Repräsentation, da der Anteil an Direktmandaten im Parlament von 50% auf einen niedrigeren Wert fallen würde – im damaligen Vorschlag auf etwa 40%. Diese Kritik blendet natürlich aus, dass Überhang- und Ausgleichsmandate bereits den selben Effekt haben. Auch im jetzigen Bundestag mit seinen 736 Abgeordneten machen die 299 Direktmandate nur etwa 40% aus.
Ein echter Nachteil ist, dass weniger Wahlkreise auch größere Wahlkreise bedeutet. Es gibt also einen Punkt, an dem die schiere Menge an Menschen und Fläche, die ein Direktmandat vertreten soll, so groß ist, dass es die lokale Repräsentation ad absurdum führt. Die Anzahl der Wahlkreise lässt sich also nicht nach belieben reduzieren. Dennoch, würde eine sinnvolle Reduktion das Problem deutlich abmildern.
Mehrmandatewahlkreise
Mehr Demokratie e.V. hat in einem Positionspapier die Idee von Mehrmandatewahlkreisen ins Spiel gebracht. Die Idee greift an der Schwäche der Wahlkreise an, dass nur eine Person gewählt wird. Stattdessen könnten manche Wahlkreise zusammengelegt werden, dafür aber auch mehr Direktmandate erhalten. In diesem Wahlkreise findet dann eine Art “kleine Verhältniswahl” statt. Schauen wir uns das an unserem simplen Beispielszenario an.
Hier haben wir nun einen Wahlkreis mit drei Mandaten und zwei weitere mit jeweils einem Mandat. Nehmen wir weiterhin an, dass die Erststimmen in jedem Wahlkreis ungefähr so verteilt sind wie die Zweitstimmen, so gewinnt nun jede der drei Parteien ein Mandat des Mehrmandatewahlkreises. Die Direktmandate von Partei A reduzieren sich entsprechend und es tritt kein überzähliges Mandat mehr auf.
Dieser Ansatz bietet viele Vorteile. Nicht nur reduziert er die überzähligen Mandate, er stärkt auch die lokale Repräsentation. Dadurch dass kleine Parteien nun ebenfalls die Chance haben ein Direktmandat zu gewinnen, haben sie einen viel größeren Anreiz sich auch in den lokalen Wahlkampf einzubringen; und dieser Anreiz besteht sogar dann, wenn sie vor Ort wenig Personal haben und nur ein bis zwei Bewerberinnen aufstellen können.
Man kann nun anführen dass – ähnlich wie oben – die Wahlkreise durch Zusammenlegen deutlich größer werden. Dem lässt sich hier entgegenhalten, dass diese größeren Wahlkreise nun auch mehr Abgeordnete haben.
Fazit
Wir haben uns in diesem Artikel mit den verschiedenen Ansätzen beschäftigt, wie man bei personalisierter Verhältniswahl mit den überzähligen Mandaten umgehen kann. Dabei haben wir vereinfachte Beispiele gewählt. In der Praxis kommen noch andere Probleme, wie z.B. die Verteilung von Mandaten auf die Bundesländer, hinzu.
Es sind auch verschiedene Varianten jedes Ansatzes vorstellbar, von gänzlich anderen Wahlsystemen ganz zu schweigen. Auch Kombinationen der Ansätze sind denkbar. Just als ich diesen Artikel vor Veröffentlichung nochmal gelesen habe, hat die Union einen Vorschlag gebracht, der eine solche Kombination darstellt. Es bleibt also spannend bei der Wahlrechtsreform.
Die Farben der Parteien sind zufällig. Auch wenn reale Parteien gerne Farben benutzen, ist keine reale Partei in diesem Beispiel gemeint.
Der Vorschlag der Ampelkoalition beinhaltet hier eine Umbenennung in “Hauptstimme”, was ich für eine gute Idee halte.
Tatsächlich besteht noch die Möglichkeit, dass unabhängige Bewerber kandidieren, die zu keiner Partei gehören. Bei der Bundestagswahl spielen diese aber nur eine sehr kleine Rolle, daher lassen wir sie hier der Einfachheit halber unter den Tisch fallen. In der Praxis muss man allerdings sehr wohl darauf achten, wie man mit unabhängigen Bewerbern umgeht.
Das klingt auf den ersten Blick nach vielen Annahmen, aber wenn man sich die Ergebnisse der Bundestagswahl in Bayern anschaut, ist das fiktive Beispiel gar nicht so weit hergeholt.
Man denke nur mal zurück an Hans-Christian Ströbele.
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